28.06.15

Die Königin der Trojaner

 Das Wetter war scheußlich. Dass überhaupt Sommer war, behauptete auch nur der Wetterclown im Fernsehen. Es war, als sollten die niedrigen Energiekosten der armseligen Winter dadurch ausgeglichen werden, dass die Heizungen auch im Sommer liefen. Hätte es mich genug interessiert, hätte ich den Heinz mit einer flotten Verschwörungstheorie amüsieren können, in der schwedische Energiekonzerne, amerikanisches Wetterfracking und englische Bilanzwerte vorgekommen wären. Lang lebe die Globalisierung.
 Aber so benetzte ich mein Inneres mit Stout, während Mellie den Fernseher laut schaltete. Irgendeine auf Schleim und Glitsch spezialisierte Quatschbacke dröhnte ihre Überzeugungen zum englischen Königshaus in den Raum. Genervt sah ich hoch, aber der Heinz war schneller: "Kannst Du das bitte wieder leise machen?"
"Interessiert Ihr Euch denn gar nicht dafür? Sie ist doch grad in Berlin."
Ich versuchte, nicht mit den Augen zu rollen, der Heinz legte die Zeitung beiseite: "Ich habe den Begriff 'Queen' konzeptionell nicht verstanden."
"Was gibt es denn daran nicht zu verstehen? Ihr Vater war König, ihr Großvater und so weiter. Sie stammt aus einem Königshaus."
"O.k., sie ist also Königin. Von England. Wirft das nicht ein paar Fragen auf?"
"Was denn für Fragen?"
Der Heinz seufzte: "Staatsrecht: Was ist der Status einer Königin in einer Demokratie? Welche Funktion hat sie eigentlich?
Geografie: Weshalb ist sie Königin von England, wenn alle Verwandte Deutsche sind?
Erbrecht: Wenn Königsein genetisch ist, wo sind die Nachfahren der Plantagenets, Lancasters oder Yorks?
Historisch: Wieso sollte ich jemandem respektieren, dessen Vorfahren meine Vorfahren geknechtet, entrechtet, in den Krieg geschickt oder sogar haben töten lassen?
Biologisch: Sind sie und ihre Kinder tatsächlich genetische Nachfahren ihrer Vorgänger? 
Psychologisch: Wieso sollte jemand, dessen adlige Vorfahren nur für Angst, Leid und Schmerzen gesorgt haben, am normalen Volk interessiert sein?
Wirtschaftlich: Von welcher Arbeit lebt sie eigentlich? Und woher stammt ihr Vermögen?"
Ich ließ Mellie Zeit zu schlucken, bevor ich eine neue Füllung für mein Glas bestellte.
"Warum muss bei Dir eigentlich alles immer so unglaublich kompliziert sein, Heinz? Sie ist nur eine nette alte Dame, die uns besucht."
"Ernsthaft? Und sie ist auch nur rein zufällig genau jetzt gekommen?"
"Natürlich. Ist wahrscheinlich ihr letzter Besuch, haben sie gesagt."
Der Heinz schüttelte den Kopf: "Nun, wir haben Pleite-Griechen und Mittelmeer-Flüchtlinge und eine andauernde Eurokrise."
"Aber damit hat doch Elisabeth nichts zu tun!"
"Willst Du mich auf den Arm nehmen? Sie ist Camerons trojanisches Pferd.
Ihre einzige Rede bezieht sich auf die EU. Dazu besucht sie zum ersten Mal in mehr als sechzig Jahren Dienstzeit ein KZ? Mit dem Primeminister wie dem Affen auf ihrem Rücken?
Der will seine Banken und sein Steuersystem für Kapitalflüchtlinge in der EU bestätigt haben. Wir Deutsche sollen ihn unterstützen, wenn er Englands Sondervorrechte in der EU weiter ausbaut. Er will keine Flüchtlinge aufnehmen, stattdessen will er sein Steuerrecht, in dem z.B. griechische Kapitalflüchtlinge steuerfrei in England leben und seine Wirtschaft unterstützen, behalten, sein Bankenrecht will er nicht einschränken. Alles für England, nichts für den Rest.
Wir sollen uns durch den Besuch geschmeichelt und natürlich auch schuldig fühlen - deshalb der private KZ-Besuch - und unseren Befreiern dankbar sein.
Bloß eine nette kleine alte Dame? Geht's noch?"
 Mellie schluckte nochmal, ich winkte mit meinem leeren Glas.
"Irgenwie ist mir heute nach einem Golden Oldie," sagte der Heinz und nahm die Zeitung wieder auf, "vielleicht was von den 'Sex Pistols'? 'God save the queen'? Und ich hätte gern einen ordentlichen No-Future-Gin dazu, ganz pur bitte."

13.01.15

Good-bye, Charlie

Armer Charlie, jetzt haben sie Dich wirklich erwischt.
Zuerst die fanatischen Killer und jetzt Deine Freunde.
Was hast Du mittlerweile auch für Freunde, Charlie, mal ehrlich, wer solche Freunde hat, muss den Tod auch nicht mehr fürchten - pun unintended, aber Satire kannst Du ja vertragen.
All diese Politiker mit ihren grundehrlichen Gesichtern und all die selbst ernannten Heiligen, alle die, denen Du regelmäßig den dreckigsten aller Spiegel vorgehalten hast, sie sind jetzt Deine neuen Freunde. Und bevor ihre kostspieligen Rechtsanwälte die Unterlassungsklagen gegen Dich zurückziehen konnten, haben sich Deine neuen Freunde in dieser Nebenstraße in Deiner Stadt getroffen, der Stadt, die bislang immer offen genug war, um Dich und Deine Provokationen auszuhalten. Deine neuen Freunde haben sich - sie behaupten: nur für Dich - Zeit genommen. Sie haben sich aufgestellt, streng nach Wichtigkeit, Charlie, sie haben sogar Statisten mitgebracht, damit es echt aussieht, und ein paar hübsche Fotos machen lassen.
Darauf sehen sie sehr engagiert aus, wie immer, wenn ihre Pressesprecher etwas planen. Aber Du weißt ja Charlie, Weltgeschichte wird nun mal nicht von Pressesprechern gemacht. So kamen erst diese gottgefälligen Killer, weil sie auf ihre Heiligen gehört haben, und dann kamen Deine neuen Freunde.
Natürlich war jeder von ihnen plötzlich Charlie, jeder war mehr Charlie als der andere, aber nur kurz. Denn bevor der Protestmarsch losging, waren sie wieder verschwunden. Sie haben aber auch viel zu tun: Den Euro retten, Flüchtlinge ausweisen, Kinder küssen, toujours faire la bonne figure, Charlie, das verstehst Du, oder? Keine Zeit für Deinen Marsch, keine Zeit für die Menschen, keine Zeit, um die Namen Deiner Toten zu lernen. Außerdem, viele Menschen sind nun einmal gefährlich und wäre einem Deiner neuen Freunde etwas passiert, das hätte die Welt nicht ausgehalten.
Bei Dir ist es anders, auf Dich kann man schiessen Charlie, Du bist ein Aussätziger. Du hast verspottet, was heilig war, Du hast alle provoziert. Hätten nicht die einen geschossen, wären bald die anderen gekommen. 'Selbst Schuld' denken sie, wenn keine Kamera dabei ist. Warte, bis es Dir die Anhänger Deiner neuen Freunde auch wieder ins Gesicht brüllen, wenn sie Dich wieder fragen, auf wessen Seite Du eigentlich stehst. Wie viele Freunde Deiner neuen Freunde wollten Dich nicht auch schon mundtot machen?
Noch trauen sie sich nicht, noch wirkt das Bild: Alle Deine neuen Freunde nebeneinander in dieser Gasse, vor den bezahlten Statisten, alle ernsthaft und betroffen, alle sind sie Du und alle wegen der Freiheit. Der Meinungsfreiheit, sagen sie.
Die Pressesprecher sind begeistert, solche Bilder geben bei Wahlen Punkte.
Die Rechtsanwälte sind es nicht, weil die Prozesse gegen Deine Meinungsfreiheit nun auf Eis liegen. Aber sie warten schon auf die nächste Gelegenheit.
Ich weiß nicht, ob es die noch geben wird, Charlie, ob Du das überlebst. Erst der Anschlag und jetzt Deine neuen Freunde. Ich bin nicht Charlie, Charlie, ich kann und ich will es nicht sein. Aber sollte es doch noch mal dazu kommen, werde ich Dir auch nicht vorwerfen, meine Gefühle verletzt zu haben, religiöse oder andere. Denn nichts und niemand ist so heilig, dass Menschen dafür sterben müssen. Aber das weißt Du ja, Charlie.

14.06.14

football's moving out


Die letzten Tage bestanden aus brüllender Hitze hier und katastrophalen Unwettern mit Verletzten und Toten nicht allzu weit entfernt. Im Moment warteten wir darauf, dass das Gewitter kam. Ich saß vor meinem Stout und wartete auch, als dieser Mann hereinkam und ein Bier bestellte. Ende zwanzig, seine Frisur hätte Princess Di begeistert, dazu ein sauber rasierter Bart, ein großes Kassengestell auf der Nase, das Halstuch lose, beige Bermudas und Springerstiefel. Aber vor allem schleppte er eine Pappkiste: sehr lang, sehr breit, sehr schmal. Es stand groß 'Sony' drauf. Und '144 3d oled curved'.
Und während Mellie ihre verschiedenen Biere anpries, hörte ich etwas ganz Seltenes. Ein Kratzen und ein unrhythmisches Schlurfen und dann stand er da, schaute und rauchte. Im Stehen war der Heinz doch kleiner als erwartet.
"Was soll das denn darstellen?" Mit der Zigarre zwischen den Fingern deutete er auf das Paket.
Der Mann aus dem Zirkus folgte seinem Finger betont desinteressiert: "Fernseher."
"Aha." Langsam und aufmerksam umkurvte ihn der Heinz. "Was kann der?"
Die Antwort kam mit einem genervten Blick: "Man kann damit fernsehen."
Der Heinz rauchte ruhig weiter:"Und dieses ganze Zeug, das da draufsteht?"
Jetzt hatte er die volle Überheblichkeit des Eindringlings herausgefordert: "Ist groß und  zeigt 3D."
Der Heinz nickte: "Für die WM?"
Schulterzucken.
"Schon einen neuen Grill besorgt?"
Der Blick, der ihn traf, sprach Bände.
"Naja, ein neuer Fernseher zum Preis eines gut ausgestatteten Gebrauchtwagens, flache, organische LEDs simulieren ein gebogenes 3D-Bild, da freut sich die Designer-Kassenbrille. Aber Junge, Du brauchst die Komplettausstattung. Du brauchst alles, was grad Werbezeit in Anspruch nimmt. Stell Dir vor, Du wärst Schrebergärtner und willst die Parzellen-Nachbarn beeindrucken. Wenn Du nicht machst, was alle machen, ist es doch nicht ironisch..."
Keine Antwort.
"Hast Du Dir schon einen Tag frei genommen?"
"Warum das denn?"
Der Heinz verdichtete seine Feinstaubwolken und nickte bestätigend: "Na, wenn die deutsche Mannschaft erst mal aus der WM raus ist, wollen alle ihre neuen Fernseher wieder umtauschen. Da werden die Warteschlangen in den Elektromärkten endlos."
Verärgertes Stirnrunzeln, schneller Griff ans Bier und runter damit. Der Fernsehbesitzer legte Geld auf den Tresen, schnappte seinen Fernseher und ging, ohne zu antworten.
"Ja," sagte der Heinz in seinen Rücken, "das war schon bei Sonya Kraus das Problem: Wenn man nicht verstanden hat, worüber man sich lustig macht, funktioniert Ironie einfach nicht."
Als sich die Tür schloss, war der Heinz schon wieder auf dem Weg in seine Ecke: "Mellie, hast Du eigentlich Tri-Top? Und einen englischen Roger Whittaker, vielleicht 'River Lady'?"

20.05.14

drum prüfe, wer sich ewig bindet...

Das Wetter wurde sommerlich, die Sonne schien, der Biergarten war gut besetzt. Aber mich kratzte das nicht. Ich belagerte den Tresen und wartete auf ein Stout. Der Geruch deutete daraufhin, dass der Heinz seine Ecke bewohnte. Als hätte es nie ein Rauchverbot gegeben.
"... und dann muss man diese neuen Handys davor halten, und die sagen einem dann, was es kostet oder was da drin ist. Ohne so ein Dingen erfährst Du doch gar nichts mehr. Was glauben die eigentlich, wer sich sowas leisten kann?"
Der Mann an der Bar war mir eindeutig unbekannt, aber genauso eindeutig empört.
"Naja," tönte es aus des Heinzens Ecke, "die selbst ernannten 'Kreativen' wollen mit der Wahl des Mediums die Zielgruppe bestimmen."
"Was?"
"Die Werbegeier wollen zahlungskräftige Kunden einer bestimmten Schicht und glauben, sie mittels ihrer Smartphones identifizieren zu können."
"Und was hat das mit mir zu tun?"
"Na Dich wollen sie nicht als Kunden."
"Weil ich kein so modernes Handy habe?"
"Weil Du zu alt bist, weil Du kein Geld für ein Smartphone hast, weil Du Dich nicht damit auseinandersetzen willst oder einfach nur, weil sie glauben, dass Du nicht mehr in die Zeit und in ihren Kundenkreis passt."
"Frechheit!"
"Und? Willst Du jetzt noch bei denen kaufen?"
"Nicht, wenn ich es vermeiden kann!"
Was dann passierte, hielt ich für ein Lachen. Oder sowas Ähnliches. Es war tief und es verstaubte die Innenluft: "Siehst Du, ein klassischer Fall von selbsterfüllender Prophezeiung. Du hast Dich genauso entschieden, wie sie es wollten. Wenn Du bei ihnen kaufst, sinkt das Image ihrer Ware. Wenn Du ihre Produkte benutzt, überlegen sich die jungen, hippen, finanzstarken Käufer, ob sie diese Produkte überhaupt wollen.
Okay, Waren kannst Du verweigern, aber was machst Du mit Deiner Regierung?"
"Wieso?"
"Weil die Regierung inzwischen selbst diese Codes benutzt. Gesundheitsminister Gröhe nutzt die Dinger zum Kennzeichnen fair getradeter Waren. Die kannst Du nur noch mit Smartphone und einer App erkennen."
"Die interessieren mich doch gar nicht!"
"War klar. Aber es nimmt zu. Bald wirst Du nicht mehr wählen können, weil die Slogans auf den Wahlplakaten nur noch mit der App zu erkennen sind."
"Ich wähle doch nicht wegen der Sprüche auf den Wahlplakaten!"
"Na, da hat die Demokratie ja noch mal Glück gehabt." Eine neute Wolke verbreitete sich aus der Ecke über den Raum. "Aber auf den Wahlplakaten steht sowieso nichts über Gen-Mais, Griechenlandrettung für die Banken oder das geheime Freihandelsabkommen mit den USA. Sollten sie jetzt noch die vollständig uneitlen und ungeschönten Porträts unserer Regierenden in QR-Codes umsetzen, würden die Plakate deutlich kleiner."
"Und?"
"Zumindest würden die Pappköppe den Verkehr nicht mehr so behindern." Nächste Wolke. "Im Gedenken an unsere Kryptographen sollten wir einen Club-Mate-Tee trinken und etwas Zwölfton-Musik hören."
"Krypto-Was? Und Tee fasse ich nicht an!"
Ich grinste und bestellte noch ein Stout.

04.02.14

La Statue


Endlich hatte ich wieder Gelegenheit, tiefenentspannt über ein Stout nachdenken zu können. Aber da war ja nicht bloß der Geruch nach Zigarren, sondern ...
"Warum können sie sie nicht einfach zufrieden lassen?"
Und ich hatte mich auch schon gefragt, was die kühlschrankblonde Fünfzigjährige ausgerechnet in der kleinen Kneipe wollte; die Eisschorle vor ihr hatte dabei wohl nur untergeordnete Bedeutung - ich kannte die Weinkarte. Außerdem, bei der Menge Eis hätte ihr Wein auch mit Flusssäure verlängert sein können. So war sie nur jemand, den das Schicksal vorbei geschickt hatte, um dem Heinz die Möglichkeit zu geben, seine Anmerkungen zum Weltgeschehen anbringen zu können:
"Moralisch? Du liebe Güte, jemand der sich jahrzehntelang ein ums andere Mal zum moralischen Maßstab macht, warum sollte man dem nicht auch ein paar ebenso jahrelange persönliche Bereicherungen nachsehen?"
"Das ist doch der reinste Rufmord!"
"Rechtlich? Rufmord wäre es, wenn es sich um Verleumdungen oder Gerüchte handeln würde. Dem ist nicht so."
"Die Medien hätten das Thema gar nicht aufgreifen dürfen!"
"Medial? Aufgabe der Medien ist es, relevante Dinge darzustellen. Steuerhinterziehung und öffentliche Personen gehören dazu. Alle Fakten sind klar und eindeutig."
"Sie hat sich selbst angezeigt, hat ihre Schulden bezahlt und damit sollte doch Ruhe sein."
"Sozial? Sie hat einen Ausweg benutzt, der Reichen die Möglichkeit bietet, sich aus einem bereits erfolgten Vergehen nachträglich herauszukaufen und das für weniger, als es sie gekostet hätte, wenn sie für die ganze Zeit Steuern gezahlt hätte und nicht nur für die geforderten zehn Jahre."
"Aber so muss man doch wirklich nicht mit ihr umgehen."
"Menschlich? Es sind die Folgen ihres Fehlverhaltens, natürlich sind die unangenehm."
"Frau Schwarzer hat eine eine Lebensleistung erbracht. Das macht man doch vollkommen kaputt, so geht man mit dem Hoeneß doch auch nicht um."
"Sportlich? Mit dem vorbestraften Rummenigge und dem Tränentier Hoeneß, der seinen Prozess erwartet, ist der FC Bayern inzwischen doch sowieso eine kriminelle Vereinigung, Mafia light. Da würde unsere Preisträgerin des 'stupid white man' ehrenhalber gut hineinpassen. Haben die beiden nicht auch ein Bundesverdienstkreuz? Vielleicht machen sie ihr ja noch ein Angebot, dass sie nicht ablehnen kann: Im Vorstand wären diese Leistungsträger unter sich."
Der Heinz zog an seiner Zigarre: "Tut mir leid, wenn das Denkmal für die unbekannte Feministin gefallen ist. Immerhin hat sie diesmal tatsächlich was für die Gleichberechtigung getan: Sie gezeigt, dass Frauen doch nicht die besseren Menschen sind."
Die Kühlschrankblondine wandte sich frustriert ihrer Eisschorle zu.
"Mellie, zur Feier des Tages hätte ich gern einen Doppelkorn und hast Du was von Jacques Brel da? 'La statue' vielleicht?"

07.11.13

James Bond, cablecaster

Draußen hing kalter Regen in der Luft, drinnen saß ich im Warmen vor einem Stout und wartete auf das Gewitter. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis der Heinz die Romeo & Julietta aus dem Mund nehmen und dem lautstarken Stammtisch-Geschwafel Einhalt gebieten würde.
"... was ist denn daran auszusetzen? Wir teilen doch sowieso schon allen alles mit. Und ich habe nichts zu verbergen ..."
Der Typ, der Mellie aufklären wollte, war untergroß, ging gebeugt und trug das Haar unter der Nase statt auf dem Kopf. Er versuchte davon mit Baskenmütze und lässigem Schal abzulenken und zerteilte die Stille mit zwanghafter Aufdringlichkeit. Ich beobachtete, wie die Wolken in der Ecke größer und dichter wurden. Kein gutes Zeichen für eine friedliche Zukunft.
"Der niedersächsische Verfassungsschutz musste Daten löschen, weil sie Journalisten, die von antifa-Demonstrationen berichten, als Extremisten beobachtet haben."
"Ach, davon spreche ich doch gar nicht."
"Sie haben noch nie an Demonstrationen teilgenommen? Nicht mal gegen den Kindergarten oder das Asylantenheim am Ende der Straße?"
"Na hören Sie mal!"
"Das zentrale Argument der amerikanischen und englischen Geheimdienste ist es, eine Gesellschaftsform zu schützen."
Der Schnauzbart sah den Heinz herausfordernd an: "Und haben Sie was dagegen?"
"Das war die zentrale Begründung für die Existenz der Stasi."
"Das können Sie doch nicht vergleichen!"
"Warum nicht? Ich treffe täglich Menschen, die im Osten auch nie Schwierigkeiten hatten. Sie hatten drüben eben auch nichts zu verbergen."
"Aber das können sie doch überhaupt nicht vergleichen!"
Der Heinz zuckte die Achseln: "Was ist mit Russland? Auch Putin verteidigt seine Gesellschaft mit den Urteilen gegen die 'Pussy Riot-Frauen' und Chodorkowski .
Und dieser Faschingsgeneral von der NSA redete über die Gefährdung seiner Arbeit als Geheimdienstler durch 'Verräter' wie Snowden. An seiner Stelle hätte ich mir auch gut Herrn Mielke vor dem Ausschuss vorstellen können.
Was halten Sie von der PKW-Maut?"
"Wenn wir in Italien Maut zahlen müssen, dann sollen die doch auch bei uns ..."
"Sie wissen, dass Herr Friedrich die so erhobenen Bewegungsdaten sofort erkennungsdienstlich verwenden will? Zusammen mit seinem Vorstoß, alle Daten an den Netzwerk-Knotenpunkten abzugreifen, gibt das ein komplettes Bewegungsbild. Aber Sie haben ja nichts zu verbergen. Keine Treffen mit Verwandten und Freunden mehr, die ausreisen wollen."
"Aus der BRD dürfen wir ausreisen!"
Der Heinz blies Rauch aus: "Bis jetzt, aber warten Sie mal, bis die Mauer gebaut wird. Immerhin haben Sie wenigstens kulturell Recht."
"Wieso das denn?"
"Nun wissen wir, wie Geheimdienste wirklich arbeiten."
"Und?"
"Jetzt wird Daniel Craig wohl im nächsten James Bond einen Arbeitsoverall tragen, Kabel legen und Antennenspannungen prüfen. Keine Autos, keine Frauen, keine Waffen, nur anderthalb Stunden Kabel und Antennen. Das wird ein Thriller."
Er wandte sich an die kichernde Mellie: "Wie wäre es mit einem Vodka-Martini und 'nobody does it better' von Carly Simon?"

18.09.13

Die Qual der Wahl

Schon als ich in die Kneipe kam, wusste ich, dass heute alles anders war. Ich hatte mein Stout noch nicht erhalten, da dröhnte der Heinz auch schon aus seiner Ecke: "Was bitte ist denn daran undemokratisch?
Ich kann doch gar nicht wählen, wen ich will. Alles was sie mich lassen, ist, Listen legitimieren, die die Parteien aufgestellt haben. Was interessiert es mich, ob jemand aus Nieder- oder aus Oberbayern kommt? Ich will, dass die ihren Job machen. Aber es müssen ja die Interessen der verschiedenen Parteiteile ausgeglichen werden. Egal ob jemand nur zum Minister wurde, weil er aus dem Wahlkreis Hessen Süd kommt und von der Materie keine Ahnung hat.
Es ist doch egal, ob Merkel oder Steinbrück gewinnen, doch was ist mit den Leuten neben ihnen? Die komplette équipe de cornichons ist wichtig, und darauf hast Du als Wähler überhaupt keinen Einfluss.
Wann hast Du das letzte Mal ein Übertragung aus dem Bundestag gesehen? Wie viele Abgeordnete waren anwesend? Hattest Du den Eindruck, die verschiedenen Parteien hätten sich da zugehört? Hast Du jemals beobachtet, dass ein Politiker nach so einer Schau sagt, boah, das Argument der Gegner war wirklich gut, ab sofort bin ich auch dafür?
Stattdessen ignorieren sich die Politiker gegenseitig, zeigen sich gegenseitig ihre Missachtung, wenn sie überhaupt erscheinen. Und wenn mal jemand mit seiner Meinung von der seiner Partei abweicht, wird er gezwungen, im Namen der Partei abzustimmmen. Fraktionszwang.
Wer nimmt die Demokratie nicht ernst?"
Der Heinz machte ein kurze Pause, die ich dazu nutzte, mein Bier zu trinken.
"Wieviel Prozent haben denn die Regierungen gewählt? Du erfährst nicht, wie viele Prozent der Wahlberechtigten für die Regierung gestimmt haben, immer nur, wie viel Prozent der abgegebenen Stimmen. Wer will denn schon hören, dass Frau Merkel nur von 30 % gewählt wurde? 40 % klingen doch viel besser.
Nur weil ich dieses Mal nicht bereit bin, das kleinere Übel zu wählen, nur weil ich dieses Mal nicht als Legitimation für deren Handlungen herhalten will, soll ich undemokratisch sein?"
Ich stellte das leere Glas auf den Tresen und legte Mellie Geld hin. Sie kam gar nicht dazu, etwas zu sagen, der Heinz machte einfach weiter.
"Weshalb machen die denn diese Welle? Doch nur weil sie langsam selber merken, dass Ihre Handlungen nicht mehr demokratisch abgedeckt sind. Und weil sie keine Lust haben, unangenehme Entscheidungen zu treffen, beschimpfen sie uns.
Was ist mit dem Umbau des Gesundheitssystems? Was ist mit der Bestechlichkeit von Abgeordneten? Was ist mit der Energiewende? Was ist mit Volksentscheidungen aus Bundesebene? Was ist generell mit dem Lobbyismus in Berlin? Alles Themen, die selbst in Albanien besser geregelt sind. Aber solange Politiker sich selbst beschränken müssen, passiert da nichts. Es ist doch schön gemütlich, wenn die Lobbyisten die Arbeit machen, man freundlich umsorgt wird; das Volk zahlt schon auf die eine oder andere Art und Weise dafür.
Da mache ich nicht mehr mit und solange ich keine Chance habe, für meine Überzeugungen einzustehen, werde ich denen auch keine Möglichkeit mehr geben, sich berechtigt zu fühlen, in meinem Namen zu handeln."
Ich nickte Mellie zu und ging, während der Heinz für eine weitere Tirade Luft holte.