03.11.12

all hallows' eve oder die amerikanischen Heiligen

Die Nächte wurden schnell länger, so dass auch die alljährliche Arbeitsbeschaffungsmassnahme für das Uhrmacherhandwerk nicht mehr darüber hinweg täuschen konnte, und die Theke war schummrig. Ich trank Stout und roch des Heinzens Räucherware.
"Gerd, was machst Du mit all den Süßigkeiten?" fragte Mellie mit Blick in die große, gelbe Netto-Plastiktasche neben meinem Hocker, "Du hast doch gar keine Enkel."
Der alte Mann links von mir schüttelte den Kopf: "Für Halloween. Ich scheine an einer beliebten Strecke zu wohnen. Jedes Jahr klingeln mehr Kinder."
Mellie lachte: "Wenn Du die Tauben fütterst, kommen die immer wieder."
"... hat's alles zu meiner Zeit nicht gegeben," brubbelte Benno vom anderen Ende der Theke.
Mellie tätschelte ihm die Hand: "Das kommt aus Amerika, so feiern die da drüben Allerheiligen."
"Ja, die Ossis, die alte Partytruppe, haben das aus den US of A geholt, sobald sie '89 von der Leine gelassen worden waren," dröhnte es aus des Heinz' Ecke, "bei Benno waren es noch Kaugummi und Rock'n'Roll."
"Damals war das was anderes," widersprach der, "den ganzen neumodischen Quatsch brauche ich nicht."
"Aber Verkleiden ist für Kinder ein Riesenspaß", wollte ihn Mellie umstimmen, doch Benno ließ sich nicht erweichen: "Dieser Konsumterror hat nichts mit unseren christlichen Grundwerten zu tun."
"Hat die CSU auch schon lange nicht mehr", echote der Heinz, "aber im Namen führen sie sie trotzdem noch."
"Ach, mir macht das einfach Spaß," sagte Gerd, "die Kinder klingeln, zeigen ihre Verkleidungen, sagen ihre Sprüche auf und bekommen Süßigkeiten."
"Die einzige Möglichkeit", lachte es aus des Heinz' Ecke. "heutzutage fremden Kindern Süßigkeiten geben zu können, ohne dass die Eltern sofort den UNO-Sicherheitsrat anrufen."
"Na hör mal, was denkst Du denn von mir?"
"Und trotz all der Berichterstattung über missbrauchte Kinder und Pädophilen-Netzwerke findet es niemand komisch, Kinder unbeaufsichtigt in unbekannte Häuser zu schicken, um sich von fremden Menschen Süssigkeiten geben zu lassen. Dabei sollte das doch eigentlich der Albtraum aller Eltern sein."
"Was willst Du damit unterstellen? Ich habe noch nie..."
Des Heinzens Bass zerschnitt das Gestammel mühelos: "Es gibt Riesenstress um dicke Kinder und ausgerechnet aus den USA kommt ein Brauch mit dem einzigen Sinn, bergeweise Süßigkeiten einzusammeln?"
"Wäre interessant zu sehen, wie lange noch mit Saurem gedroht wird, wenn die Süßigkeiten aus Tofu-Würfeln und Karotten-Schnitzen bestehen werden," säuselte ich meinem Bier etwas zu laut zu.
Die Köpfe drehten sich. Alle in meine Richtung. Oh Mann.
"Wie viele makrobiotische Zombies kann es in einer Stadt geben?"
Sie sahen mich immer noch erstaunt an. Noch mal seufzend gab ich nach: "Also Meinetwegen: eine Lokalrunde 'Schlehenfeuer'! Aber dann will ich auch 'Sweets for my sweet' in der Originalfassung hören!"
Des Heinz' Lachen ließ die Theke vibrieren.

30.10.12

Beautiful Sunday

"Was Schönes eingekauft?" wollte Mellie wissen, als ich die bunte Plastiktüte klirrend auf dem Tresen abstellte.
Ich zog einen Flunsch und bestellte mein Stout.
"Dass ausgerechnet Du am Sonntag einkaufen gehst..."
Ich sah sie über den Rand des Glases an: "Wieso?"
"Üblicherweise verteidigst Du die Werktätigen Genosse," brummte der Heinz und Rauch wehte aus seiner Ecke in den Barraum, "da war davon auszugehen, dass Du alter Gewerkschafter den verkaufsoffenen Sonntag scheust wie der Teufel das Weihwasser."
"Sehr lustig."
"Ich muss auch jeden Sonntag arbeiten," meinte Mellie.
"Du und jeder andere Pfarrer," lachte der Heinz, "alles Männer Gottes."
"Das wage ich noch zu bezweifeln," maulte ich zu leise in mein leeres Glas, um gehört zu werden, und bestellte das nächste. "Die Schlossstraße hinauf und hinunter habe ich ganzen Hunnenhorden mit drei Buchstaben auf dem Kennzeichen die Stirn geboten und musste dann trotzdem zum Apotheken-Nachttarif bei Karstadt einkaufen. Mehr als die Hälfte aller Läden war nämlich nicht geöffnet."
"Freies Unternehmertum," gab der Heinz zurück, "niemand wird gezwungen, Geld zu verdienen."
"Sei zufrieden, dass Du in Berlin lebst. Hier gibt's wenigstens keine Sperrstunde," sagte Mellie, ganz stolze Hauptstädterin.
"Oh," der Heinz gab den Oberlehrer, "die bundesweite Sperrstunden-Regelung gibt es schon lang nicht mehr. Inzwischen legt jedes Bundesland selbst fest, wann wer aufhaben darf. Deshalb haben wir auch diese entzückend kleinteiligen Regelungen mit den zwei verkaufsoffenen Advent-Sonntagen und den seltsamen Öffnungszeiten für die Läden im Hauptbahnhof und demnächst im Flughafen."
Mellie nickte: "Die habe ich nie verstanden!"
"Das eine hängt an der Zahl der verkaufsoffenen Sonntage pro Jahr. Die Kirchen verlangen Kompromisse, damit mehr ihrer Schäfchen Sonntags Zeit für sie haben. Und die Entscheidung, welche Läden an normalen Sonntagen öffnen dürfen, hängt davon ab, ob es sich bei ihrer Ware um Reisebedarf handelt."
"Reisebedarf?"
Der Heinz sah sie nachsichtig an: "Aber noch besser sind die Bayern. Bei deren Tankstellen kriegst Du nach acht und an Wochenenden nur Ware, wenn mit dem Auto vorfährst."
"Super," sagte ich, "Deiner Party geht nach Stunden das Bier aus, und Du musst mit dem Auto einkaufen fahren, egal wie viel Du schon intus hast. Erhöht die Verkehrssicherheit bestimmt ungemein."
"Nun sag schon," fragte Mellie, "was hast Du denn nun so dringend gebraucht?"
"Bier." Ich sah zur Decke. "Und eine bestimmte Flasche Whisky."
"Schätzchen, Du hättest doch nur zu mir kommen müssen," säuselte Mellie, "ich hab doch jeden Sonntag auf. Und zum Schluss endest Du doch sowieso jedes Mal wieder hier."
Ich nickte gottergeben, sie blickte in meine Plastiktüte.
"Na dann einen Jim Beam Rye für alle und ein Bier!" rief sie. "Und soll ich mal 'Sunday bloody sunday' für Dich auflegen?"