Ich bog um die Ecke und der Tag war ein besonderer. Vor der Bar fletzte der Heinz in einem der Plastikstühle. Ich sah von seinem missmutigen Gesicht zur verschlossenen Tür, schnappte mir auch einen Stuhl vom Stapel und fragte: "Soll ich kurz zu 'Getränke Hoffmann' rüber, ein Sixpack holen?"
"Willst Du mich zu allem Überfluss auch noch auf den Arm nehmen?"
Wollen hätte ich schon gemocht, nur dürfen habe ich mich nicht getraut. Denn unbedingt zu vermeiden wäre dabei, dass der Heinz seine Unzufriedenheit über die Gesamtsituation anschliessend an mir ausließ. Heikel. Und ambitioniert. Noch in der Planungsphase meiner Antwort überholte mich die Realität in Form von Mellies Ankunft.
"Natürlich müsst ausgerechnet Ihr es sein!" schnauzte sie, bevor sie schaumgebremst und mit hochrotem Kopf erst das Sicherheitsgitter, dann die Tür aufschloss.
Bis Licht und Musik andeuteten, dass die Explosionsgefahr drinnen nicht mehr unmittelbar sei, warteten wir. Schwerfällig ließ sich der Heinz in seiner Ecke nieder, ich nahm mir einen Barhocker.
"Diese verdammte S-Bahn!" Donner rollte heran.
Da ich nicht wusste, ob sie mit mir, dem Heinz oder wie einst Don Camillo mit dem höheren Wesen, das sie verehrte, redete, beschränkte ich mich auf ein Nicken.
"Erst sind Züge ausgefallen, dann haben Heizungen und Türen nicht funktioniert, waren Weichen vereist, haben Kabel gebrannt und was weiß ich nicht noch alles."
"Rücktritt Mehdorn, Auftritt Grube", kommentierte der Heinz aus dem Off, offensichtlich vollständig angstfrei.
"Dann haben sie diese bescheuerte Brücke vor Wannsee abgerissen und den Fahrplan umgestellt, um in Nikolassee Anschluss zu schaffen."
Mellie sah mich wütend an. Um den Heinz wütend anzusehen, hätte sie sich ziemlich vorbeugen müssen. Das wiederum hätte ich gern gesehen.
"Die Verbindung zur BVG hat von Anfang an nicht geklappt, genau wie zum Ersatzverkehr, wenn Du auf der Treppe nicht zu den ersten zwanzig gehörst."
Ich wartete.
"Und jetzt bauen sie zwischen Schöneberg und Friedenau und ich brauche fürs Warten und Umsteigen länger als für die Fahrtzeit."
Bislang hatte sie weder nach Getränken gefragt, noch mit unseren Standardbestellungen begonnen.
"Als Sahnehäubchen fährt eine Freundin täglich im Regionalverkehr nach Griebnitzsee. Aber der wurde wegen des Brückenbaus ebenfalls komplett und gleichzeitig zur S-Bahn eingestellt. Und die Kirsche oben drauf ist die Avus, die seit dem Sommer halb gesperrt ist. Völlig egal wie oder wann, Du landest im Stau."
Vorsichtig deutete ich auf das Regal hinter ihr, in dem unglaubliche Mengen von Alkohol auf Gäste - also mich - warteten, aber Mellie sah nichts, Mellie hörte nichts.
"Wenn ich könnte würde ich die Bahn auf Rückgabe meiner zwischen ihren Baustellen verlorenen Lebenszeit verklagen."
"Die Bahn AG will nur Geld verdienen." Der Heinz schnitt ein Zigarrenende ab.
"Ob sie mit dem Monopol für den innerdeutschen öffentlichen Nahverkehr - eine Folge des ersten Weltkriegs - die Preise hochtreibt, KZ-Häftlinge transportiert oder uns das von uns selbst bezahlte Schienensystem vorenthält und uns immer wieder aufs Neue dafür bezahlen lässt, dass wir es benutzen." Er gab sich Feuer.
"Renditevorstellungen in Höhen, von denen mittlerweile selbst die Deutsche Bank abgerückt ist, bluten die S-Bahn aus, und Du glaubst, die würden sich auch nur die Bohne um Deine Transportbedürfnisse scheren? Lieber kauft die Busse in Indien oder Container-Schiffe in Afrika."
"Ich will aber nicht von Hongkong nach Macao, sondern von Mitte nach Steglitz und zwar pronto, damit ich nicht nochmal zu spät komme und ihr beiden Besserwisser schon auf mich wartet. Habt Ihr eigentlich die verdammten Stühle draußen zurück auf den Stapel gestellt? Heute soll's noch regnen!"
Ich ging Stühle stapeln. Und bevor ich mich endgültig ohne Bier vom Acker machte, hatte ich tatsächlich noch keine Replik von dem Heinz gehört, keine passende Bestellung, keinen Musikauftrag.
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